Frankreich
Im Prozess gegen den ehemaligen Chirurgen Joël Le Scouarnec, der über Jahrzehnte mehr als 290 Patientinnen und Patienten missbrauchte, gesteht die französische Ärztekammer schwerwiegende Versäumnisse. Trotz früherer Hinweise blieb der Arzt unbehelligt. Der Fall erschüttert das Vertrauen in das Gesundheitssystem und wirft Fragen zur Verantwortung medizinischer Institutionen auf.

Frankreichs Ärztekammer hat im Prozess um hundertfachen Missbrauch gegen einen Chirurgen eigenes Versagen eingeräumt. Die Vereinigung sei bei der Verhandlung dabei, «um ihr Bedauern zum Ausdruck zu bringen und Fehlfunktionen und Versäumnisse zuzugeben», sagte die Anwältin der Kammer, Negar Haeri, vor Gericht im westfranzösischen Vannes, wie die Zeitung «Ouest France» berichtete.
Der pensionierte Mediziner Joël Le Scouarnec (74) hat in dem Prozess gestanden, zwischen 1989 und 2014 insgesamt 158 Patienten und 141 Patientinnen im Durchschnittsalter von elf Jahren missbraucht zu haben.
Ärztekammer gesteht Versäumnisse vor Gericht
Zwar wurde der Chirurg schon 2005 wegen des Besitzes kinderpornografischer Bilder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und einzelne seiner Kollegen schalteten deshalb die Gesundheitsbehörden ein. Am Ende aber gab es keinerlei disziplinarische Konsequenzen für den Mann, der damals zu einer anderen Klinik wechselte und seine Missbrauchstaten fortsetzte. Deshalb sieht sich unter anderem die Ärztekammer Vorwürfen ausgesetzt.
Die Anwältin der Kammer sagte, dass sie sich «persönlich manchmal für die Antworten geschämt habe, die uns die verschiedenen Verwaltungsbeamten aus dem medizinischen Bereich, die vor Gericht aussagten, gegeben haben». Sie fügte hinzu: «Ich habe mich geschämt, dass es schwierig war, auch nur die kleinste Verfehlung zuzugeben. Jeder Zeuge hat sich selbst aus der Verantwortung genommen.»
Opfer fordern Aufklärung und Verantwortung
Auch Opfer des Chirurgen prangerten im Zeugenstand das Versagen der Gesundheitsbehörden an. «Wie hat Doktor Scouarnec 30 Jahre lang praktizieren können, wie hat man ihn seinen Gang gehen lassen können, wieso hat das niemand gewusst», sagte eine 36-Jährige vor Gericht. «Das regt mich auf.»
Das Urteil wird am Mittwoch (28.5.) erwartet.
Quellen
dpa